Die Reise der Brille

Nahezu zwei Drittel der Deutschen sind Brillenträger – bis die Brillen aber passgenau auf den Nasen landen, haben sie einen langen Weg hinter sich. Und ebenso herausfordernde Arbeitsschritte überstanden. Helga Lindemann ist Entwicklungsingenieurin beim Kölner Startup Shape Engineering, einer Ausgründung der TH Köln, und eine Brillenexpertin. Sie kennt die Reiserouten der Brillen, die Herausforderungen ihrer Verglasung und hat ein Verfahren mitentwickelt, das genau diesen Prozess vereinfachen soll.

Frau Lindemann, wie groß ist der Markt für die kundenindividuelle Produktion?
Die kundenindividuelle Fertigung ist einer der ganz großen Fertigungstrends. Die Globalisierung und das Internet lassen den Wunsch der Menschen nach Individualisierung insbesondere im Modebereich ständig wachsen. Man sieht, was alle anderen tun - weltweit - und möchte sich abheben. In vielen Bereichen wird das mit der kundenindividuellen Fertigung ja auch schon gemacht: bei selbstgestalteten Sneakers oder persönlich zusammengestellten Müslis zum Beispiel. Das entwickelt sich zur Zeit ständig weiter und das bedeutet natürlich, dass die gesamten Vertriebs- und Produktionsprozesse darauf angepasst werden müssen. Nicht nur im Consumer-Bereich sondern auch bei der Herstellung der dazu notwendigen Werkzeuge. Da werden sich sicherlich die meisten Firmen anpassen und weiterentwickeln müssen. 

Einen besonderen Produktionsweg hat auch die Brille, wie Sie in Ihrem Artikel zeigen. Bis wir sie auf der Nase haben, ist sie viel rumgekommen.
Die Brille ist wirklich ein weit reisendes Produkt. Jedes Jahr werden verschiedene Fassungskollektionen von einer Vielzahl von Herstellern produziert, oft in China oder Italien, und an die Optiker geliefert. Geht der Kunde zum Optiker und sucht sich eine Fassung aus, bestellt der Optiker die passenden Gläser. Die eigentlichen Materialien für das Brillenglas werden nur von einer Handvoll Unternehmen hergestellt, in Amerika oder in Japan zum Beispiel. Das ist aber erst einmal nur das flüssige Polymer. Die Rohlinge werden dann gegossen. Brillenglasvertriebe weltweit kaufen solche Rohlinge. Sie schleifen die optischen Flächen, so dass diese an die Sehschwäche des Kunden angepasst sind und dampfen die Beschichtungen zur Entspieglung oder für die Kratzfestigkeit auf. Die Gläser gehen dann entweder direkt an den Optiker, wenn er eine eigene Maschine zur Randbearbeitung hat, oder an eine weitere Station, wo die Brillengläser dann in Form gefräst werden, damit sie in die Fassung passen. Der Optiker setzt dann die Gläser in die Fassung ein. 
 
Die Verglasung der Brille ist dabei die größte Herausforderung. Warum?
Das Hauptproblem bei der Verglasung liegt darin, dass sie ganz am Ende der Produktionskette steht. In dem Moment, wo die Brillengläser in Form gebracht werden, sind schon unheimlich viele Schritte durchlaufen. Wenn da etwas schief geht, muss von vorne begonnen werden. Das ist zeitaufwändig und kostenintensiv. Außerdem handelt es sich bei einer Brille um ein hochpräzises Medizinprodukt kombiniert mit einem auf Ästhetik optimiertem Modeaccessoire. Diese Verbindung, im mechanischen sowie im anforderungstechnischen Sinne, ist nicht ganz einfach.

Sie haben an der TH Köln ein neues Verfahren mitentwickelt, das den Prozess der Verglasung vereinfachen soll. Das Stichwort hier ist die hybride Fertigung – was bedeutet das?
Unter hybrider Fertigung wird die Kombination von subtraktiven und additiven Verfahren verstanden. Bei den additiven Verfahren muss es sich natürlich nicht um einen Druckprozess handeln. Oft werden Pulver aufgeschmolzen oder flüssige Kunststoffe lokal polymerisiert. Hybride Fertigung wird immer beliebter, da die additiven Fertigungsverfahren mehr Freiheiten bei der Formgebung bieten, aber oft in den Bereichen der Genauigkeit und Oberflächengüte nicht ausreichen. Außerdem können mit additiven Verfahren zwar materialsparende und hochkomplexe Strukturen erzeugt werden, dies ist allerdings zeitaufwändig. Daher lohnt es sich einfache Geometrien konventionell subtraktiv herzustellen und die komplexeren Strukturen darauf aufzutragen. Die Verwendung der Vorteile beider Technologien ermöglicht völlig neue Produktlösungen und macht die Nutzung der additiven Fertigung auch in der Serienproduktion wirtschaftlich.
 
Wie sieht das nun in der Anwendung bei der Brillenverglasung aus?
Mit der Elastic Vision Technologie wird das Glas abtragend in die allgemeine Form gebracht und die Glasrandstrukturen werden 3D-Druck ähnlich aufgebracht, statt ebenfalls abtragend herausgearbeitet werden zu müssen. Dadurch werden viel weniger Werkzeuge benötigt. Gleichzeitig sind geringere Toleranzen bei der Formgebung notwendig, da das aufgebrachte Material flexibel ist. Das senkt die Kosten und steigert die Prozesssicherheit.
 
Ist die hybride Fertigung schon in der Industrie angekommen?
Sie ist noch recht neu und wird noch kaum industriell eingesetzt. Es wird aber viel geforscht und entwickelt, da gibt es viele spannende Projekte. Das „aufdrucken“ von Kühlrippen oder Verstärkungsstreben auf bestehende Bauteile ist da ein Beispiel. Das Fraunhofer-Institut arbeitet an Robotern für die Integration von additiver Fertigung in bestehende Produktionsstraßen. Es gibt auch Maschinen, die additiv Geometrien aufbauen und diese subtraktiv nachbearbeiten, die für Kleinserien schon geeignet sind. Das Auftragen von Strukturen auf spanend hergestellte Kunststoffteile, wie wir das machen, habe ich allerdings so noch nicht gesehen.
 
Gab es für Sie besondere Überraschungsmomente im Laufe Ihrer Forschung?
Bei der Arbeit an einem so innovativen Thema, gibt es ständig Überraschungen. Aber ich war schon beeindruckt, welchen Einfluss die doch so kleinen aufgetragenen Strukturen haben. Wenn man ein Elastic Vision Glas in eine Fassung einsetzt, erkennt man erst einmal keinen Unterschied zu einem gefrästen Glas. Wenn man es dann unter den Spannungprüfer hält, sieht man, dass das Glas praktisch spannungfrei ist. Das kenne ich sonst nur bei extrem genau hergestellten Gläsern. Es ist immer wieder faszinierend, wie viel Entwicklungspotenzial in Produkten steckt, welche seit Jahrzehnten produziert und verwendet werden.

Mehr von Helga Lindemann lesen Sie in der aktuellen Ausgabe von Industrie 4.0 Management im Beitrag: Hybride Fertigungsverfahren